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Redebeitrag Mahnwache am 11.07.2019

Posted: July 17th, 2019 | Author: | Filed under: General | Comments Off on Redebeitrag Mahnwache am 11.07.2019

Hier dokumentieren wir unseren Redebeitrag bei der Mahnwache am 11.07.2019 in Münster zum Thema “Kein Schlussstrich”:

Heute vor einem Jahr wurde das Urteil im NSU-Prozess verkündet. Wir sind an diesem Tag gemeinsam mit Mitstreiter*innen in vielen anderen Städten auf die Straße gegangen. Wir haben den Opfern des NSU gedacht und gefordert: „Kein Schlussstrich“.
Kein Schlussstrich unter der Aufklärung der Morde,  kein Schlussstrich unter die Verstrickung von Ermittlungsbehörden und Geheimdiensten, kein Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, die den NSU erst möglich gemacht haben.

Seit dem Urteil ist noch einmal deutlich geworden, wie weit das Versagen der staatlichen Stellen bei der Verhinderung der Morde geht und wie langwierig die Aufklärung ist. So endete vor einem Monat der zweite NSU-Untersuchungsausschuss im sächsischen Landtag. Im Abschlussbericht sprechen die regierende CDU und SPD zwar von „Defiziten“ bei der Verfolgung des NSU. Sie können aber keine nachweisbare Schuld sächsischer Behörden oder des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz erkennen.

Dieser Bericht wird u.a. von 11 Anwält*innen der Nebenklage als Armutszeugnis bezeichnet. Die Möglichkeit einer frühzeitigen Festnahme und die Rolle des Landesamtes hatten sie immer wieder im NSU-Prozess thematisiert. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe konnten 10 Jahre in Sachsen untertauchen, obwohl sie schon im Visier der Strafverfolgungsbehörden waren.
Auch der alternative Abschlussbericht von Grünen und der Linke zeichnet ein deutlich anderes Bild: Das Landesamt ging Informationen nicht nach, gab wichtige Hinweise nicht an die Polizei weiter und behinderte nach der Selbstenttarnung des Trios die Aufklärung.

Und auch der NSU-Untersuchungsausschuss in Mecklenburg-Vorpommern kam im vergangen Jahr nur schleppend voran. Wie so oft lag das an der Mauertaktik mehrerer Ministerien, die Akten nicht rausgeben konnten oder wollten. Außerdem sind wichtige Akten vernichtet worden.

Doch diese Verweigerung einer vollständigen und effektiven Aufklärung von Seiten staatlicher Behörden hat lange Kontinuität. Im NSU-Prozess wird dies an der Rolle der Bundesanwaltschaft deutlich, auf die wir noch einmal genau eingehen wollen. Die Bundesanwaltschaft leitete maßgeblich die Ermittlungen im NSU-Prozess. Sie selbst be- und verhinderte aber vorsätzlich die vollständige Aufklärung des NSU-Komplexes. Von Anfang an beschränkte sie die Verfolgung auf das Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sowie deren nächstes Umfeld und ignorierte damit den Netzwerkcharakter des NSU. Sie behinderte die Aufklärung staatlicher Beteiligung an diesem Netzwerk. Hielt Informationen zurück und verwehrte Verfahrensbeteiligten immer wieder die Akteneinsicht.

Schon in der Anklageschrift hatte sich die Bundesanwaltschaft festgelegt: Der NSU sei eine „singuläre Vereinigung aus drei Personen“ mit einem „eng begrenzten Kreis von wenigen Unterstützern“, der sich mit dem Tod von Mundlos und Böhnhardt aufgelöst habe. Trotz drückender Beweislage hielt sie während des fünfjährigen Prozesses an der Trio-These fest. Doch 13 parlamentarische Untersuchungsausschüsse und die Ermittlungen der Nebenklage haben gezeigt, dass es sich um einen breiten Unterstützer*innenkreis aus der rechtsradikalen Szene mit Verstrickungen zu staatlichen Behörden handelte. Es gibt Verbindungen zum Thüringer Heimatschutz, Combat 18 (eine Gruppe, deren Name auch im Zusammenhang mit dem Mord an Walter Lübke auftaucht) und V-Personen wie Primus, in dessen Firma Mundlos und Böhnhardt arbeiteten.

Die Bundesanwaltschaft ließ Alex M. – der vielen unter seinem Tarnnamen Lothar Lingen bekannt sei dürfte-, im Oktober 2014 im Geheimen vernehmen. Der Verfassungsschützer Lingen hatte 2011 Akten über V-Leute aus dem Umfeld des NSU geschreddert hatte und so wichtige Informationen über das engmaschige staatliche Unterstützungsnetzwerk vernichtet. Ein halbes Jahr später beantragte die Nebenklage, Lingen als Zeugen zu laden, um mehr über dessen Schreddern zu erfahren. Die Bundesanwaltschaft behauptete daraufhin, dass der Vorwurf der vorsätzlichen Aktenvernichtung „spekulativ“ und „ins Blaue hinein“ sei. Peinlich für die Bundesanwaltschaft war dann die Aussage Lingens vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags ein Jahr später in der er dann öffentlich zugab, die Akten vorsätzlich zum Schutz der eigenen Behörden vernichtet zu haben. 

Der Staatsanwaltschaft Köln stellte das Verfahren gegen Lingen übrigens gegen eine Geldauflage von 3000 Euro ein und er wurde in das Bundesverwaltungsamt versetzt. Die Bundesanwaltschaft hat die unterlassene Aufklärung vieler Themenkomplexe immer wieder damit gerechtfertigt, dass der Prozess gegen die fünf Angeklagten nur einen Ausschnitt der Ermittlungen zeige und es weitere Ermittlungsverfahren gebe. Es stimmt zwar, dass die Bundesanwaltschaft neun weitere Ermittlungsverfahren gegen Unterstützer*innen und eines gegen unbekannt führt.

Doch niemand hat das Gefühl, dass mit großen Nachdruck ermittelt wird. Ein Jahr nach dem Urteil ist man keinen Schritt weitergekommen: es wurde kein Verfahren eingestellt, es wurden aber auch keine Anklagen erhoben. Laut der Bundesanwaltschaft haben sich die Verdachtsmomente bisher nicht erhärtet. Mit wie vielen Ressourcen noch ermittelt werde, möchte sie aber auch nicht sagen und so drohen die Verfahren im Sande zu verlaufen. 

Sebastian Scharmer, Anwalt der Nebenklage, befürchtet, dass die Verfahren nur deshalb noch offen gehalten werden, um Untersuchungsausschüssen und Hinterbliebenen mit Verweis auf laufende Ermittlungsverfahren Auskünfte
verweigern zu können. Dieser Verdacht kommt nicht von ungefähr, schon im Prozess selbst hatte die Bundesanwaltschaft immer wieder systematisch Ermittlungsergebnisse zurückgehalten und Verfahrensakten nur sehr selektiv eingereicht oder zugänglich gemacht. Dadurch wurde insbesondere die Arbeit der Nebenklage erheblich erschwert. Durch diese Behinderung im Prozess blieb der Nebenklage und den Betroffenen die umfassende Rekonstruktion der Tatumstände verwehrt. So wissen die Familien der Ermordeten beispielsweise bis heute nicht, warum gerade sie ausgewählt wurden und welche potentielle Unterstützer*innenkreise vor Ort weiterhin existieren.

Doch auch der Blick in die Gegenwart zeigt, wie wenig Interesse an einer vollständigen Aufklärung besteht: Dort sehen wir das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen, das einen Untersuchungsbericht bis 2134 geheim halten will. In dem Bericht wird die Rolle des Landesamtes untersucht und enthält mutmaßlich wichtige Informationen zum Mord an Halit Yozgat. Beim Mord an Halit Yozgat war der V-Mann Andreas Temme anwesend, der weder die Schüsse gehört, noch den Körper des sterbenden Halit Yozgat gesehen haben will. Durch die Untersuchungen von Forensic Architecture wissen wir, dass das eine Lüge ist. 

Eine Geheimhaltungsfrist von 120 Jahren ist beispiellos und darf es in einem Rechtstaat nicht geben. Es kann für sie keine Rechtfertigung geben. Die Öffentlichkeit, aber vor allem die Hinterbliebenen von Halit Yozgat, haben einen Anspruch darauf die Wahrheit zu erfahren und nicht in Ungewissheit gelassen zu werden.

Darum fordern wir gerade am heutigen Tag:

Keine Akte mit NSU-Bezug darf verschlossen und geheim bleiben!

Die Verstrickung von Geheimdiensten und V-Personen muss endlich vollständig aufklären werden!

Unterstützer*innen und Mittäter*innen der NSU-Morde müssen endlich angeklagt und verurteilt werden!


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